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Ostern 1874

Über die Schönheit und literaturhistorische Bedeutung der "Minna von Barnhelm"

Maturitätsaufsatz

von E.E. Wiltheiß


Lessings größtes Meisterwerk ist ohne Zweifel seine "Minna von Barnhelm", und gewiss verdient dies Drama auch mit dem größten Rechte diesen Namen, denn gerade in dem ihm eigenthümlichen Schönheiten kann man in der deutschen Literatur wahrscheinlich vergebens nach einem ihm gleichkommenden Schauspiele suchen. Seinen Stoff nahm Lessing aus dem gewöhnlichen Leben, aus den Zeiten nach dem siebenjährigen Krieg; und mit fast wunderbarer Geschicklichkeit hat er den Ausdruck dem gewöhnlichen Umgangston angepasst, jedoch die Übertreibungen dessen man sich oft genug beim Sprechen schuldig macht, weise vermieden und zugleich man kann fast sagen - jedes einzelne Wort dichterisch veredelt. Im Ganzen ist die Sprache lebendig, einfach, nie sich in langen Phrasen ergehend, und gerade deßhalb warm zu dem Herzen dringend. Selbst die Ausbrüche Justens kann man nicht unschön nennen.

Faksimile der ersten beiden Seiten des Maturitätsaufsatzes von E.E. Wiltheiß
Die Durch- und Unterstreichungen sowie die Bemerkungen in der linken Spalte
stammen vom Lehrer.
 

Ebenso glücklich wie in dem Ausdrucke war Lessing auch in der ganzen Anlage. Anfangs schreitet die Handlung höchst einfach vorwärts, fängt aber schon bald an, sich mehr und mehr zu verwickeln, und der Knoten scheint sich fast unauflöslich zu schürzen, um sich dann plötzlich höchst natürlich zu lösen. Doch kann man auch bei der geäusserten Kritik nicht das Mindeste finden, was man für unnatürlich erklären dürfte. Jede Handlung entspringt naturgemäß aus dem Charakter der betreffenden Person, und so ist die Verwickelung eigentlich, wie es auch sein muß, nur die Folge der Umstände.

Die Charaktere sind meisterhaft gezeichnet, ganz aus dem Leben gegriffen, jeder einzelne Zug ist wahrheitsgetreu, natürlich und voller Leben. Minnas tiefe Liebe und erprobte Treue, die selbst durch jahrelange Trennung nicht geschwächt wird, ihre liebenswürdige Schalkheit, die gleich bereit ist ihrem Geliebten eine kleine Strafe aufzuerlegen, Tellheims Edelmuth, der in Gedanken oft für seine Minna alles zu ertragen, wenn sie arm und verfolgt ist, der aber nicht einmal sein Versprechen halten will, wenn sie reich und glücklich ist, während er sich im Unglück befindet, können auf jeden nur einen günstigen Eindruck machen. Ebenso muß Justens Anhänglichkeit, die er selbst mit der Treue eines Hundes vergleicht, und Werners Vertrauen, mit dem er dem Major all´ das Seine zur Verfügung stellt, für das Drama gewinnen. Doch auch die Charaktere, die an und für sich nicht gerade einen guten Eindruck machen, sind so gestaltet, daß man sie fast zu den Schönheiten zählen könnte: Des Wirthes Verschmitztheit und Neugierde machen ihn zu einer wahrhaft komischen Figur, und der Franzose, der zu Tellheim will und in Minna´s Zimmer geräth, ergötzt durch seine Anmaßung und Leichtfertigkeit.

Durch diese Schönheiten und Vorzüge nimmt das Drama eine Stelle unter den ersten Schöpfungen der deutschen Literatur ein und wird sie wohl immer bewahren. Allein als Lessing es entstehen ließ, hatte er einen anderen Zweck im Auge, als dadurch seinen Namen unsterblich zu machen. Lessing wollte durch das Drama den Grundstein zu einem wahrhaft deutschen Schauspiele legen, ein Ziel, das er durch sein ganzes Leben im Auge hatte. Damals war die deutsche Muttersprache durch die französische Hofsprache fast ganz aus den höheren Schichten der Bevölkerung verdrängt worden, und auch auf der Bühne fand man beinahe nur französische Dramen. Die Dichtungen eines Voltaire waren die Meisterstücke, nach denen sich fast die ganze Welt richtete. Die deutsche Poesie war entweder ganz von den Bühnen verbannt, oder auf unwürdigen Stoff beschränkt. Eine Bühne, auf der nur deutsche Schauspiele gegeben wurden, konnte nicht bestehen und löste sich in kurzer Zeit wieder auf. Viel trug dazu der Umstand bei, daß in allen deutschen dramatischen Dichtungen eine schwülstige pathetische Sprache in Gebrauch war, die oft gar nicht zu dem Stoffe paßte und um so unangenehmer lautete, als sie noch durch den Reim in eine bestimmte Form gezwugen wurde. Die deutsche Sprache nun in größeres Ansehen zu bringen, und besonders um ein, eigentlich deutsches Schauspiel zu gründen, schrieb Lessing, wie schon oben gesagt, seine "Minna von Barnhelm", und die Aufgabe, hierdurch ein Meisterwerk zu schaffen, wurde ihm keineswegs leicht, denn wie er selbst sagte, mußte er erst Alles mit Druckwerken aus sich herauspressen. Natürlich mußte er nun auch eine ganz neue Verfahrungsweise einschlagen, unbekümmert um die seitherigen Normen, die seine Zeitgenossen noch immer befolgten. Er ging zurecht direkt auf Aristoteles zurück, um die Regeln, die Franzosen falsch verstanden hatten, in ihrer wahren Gestalt kennen zu lernen und sie in seiner Dichtung zu verwerthen. Dann nahm er seinen Stoff aus dem bürgerlichen Leben, nicht aus der Ferne oder aus längst vergangenen Zeiten, und zeigte, daß auch alltägliche Ereignisse einer wahren dramatischen Behandlung fähig seien. So brachte er das Schauspiel dem Zuschauer näher und erregte mehr sein Interesse, das bei Stoffen, die seinem Gesichtskreise ferner liegen, erkalten muß. Außerdem änderte er den Ausdruck; er schrieb in Prosa und nahm die alltägliche Umgangssprache für die Verse. Diese paßten auch jedenfalls viel besser zu dem Stoffe. Dadurch brach er ganz mit der gebräuchlichen Form und bahnte gleichsam den Weg zu einer neuen Sphäre der dramatischen Dichtung, in der sein Werk immer das Muster bleibt, dem unsere größten Dichter gefolgt sind, und das jeder Dramatiker immer im Auge haben muß.



optstoch@ 28. Dezember 2003, © goma