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Hans Brandes (1883-1965)

HANS BRANDES hat von April 1904 bis zum Schluss des Sommersemesters 1906 an der Königl. Preussischen Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg Mathematik und Physik studiert. In seiner auf Anregung von FELIX BERNSTEIN (1878-1956) entstandenen Promotionsschrift prägte er den Begriff der axiomatischen Einfachheit, den man aus heutiger Sicht als einen ersten Versuch werten muss, die Komplexität mathematischer Beweise exakt zu fassen.

Das Foto stammt aus der Zeit um 1945.

  1. Lebensdaten
  2. Axiomatische Einfachheit
  3. Literatur
Die folgende Darstellung beruht auf dem Bericht [3].
Hans Brandes (1883-1965) um 1945.

1. Lebensdaten

1883 Am 6. Januar wurde HANS BRANDES als viertes Kind des Dorflehrers und Kantors FERDINAND BRANDES und seiner Ehefrau SOPHIE BRANDES, geb. LÖHR, in Nordassel im Herzogtum Braunschweig geboren. Er wurde in der evang. luth. Kirche getauft.
1895-1902Besuch des Königlichen Andreas-Realgymnasiums im preußischen Hildesheim. In den letzten Schuljahren waren GUSTAV ADOLF KALCKHOFF (~1835-1909) und FRIDO OESTERN seine Mathematik- und Physiklehrer. Er verließ das Gymnasium mit der Note sehr gut in Mathematik, um sich dem Studium der Mathematik zu widmen.
1902-1904 Studium der Mathematik an der Universität Göttingen. Er hörte bei DAVID HILBERT (1862-1943) insbesondere den damals üblichen zweisemestrigen Grundkurs in Differential- und Integralrechnung, aber auch Theorie der Differentialgleichungen und Theorie der partiellen Differentialgleichungen. Bei HERBERT MINKOWSKI (1864-1909) besuchte er die Grundvorlesungen Algebra und Mechanik I und bei ERNST ZERMELO (1871-1953) über Determinanten. Schließlich belegte er bei FRIEDRICH SCHILLING (1868-1950) Analytische Geometrie, Analytische Theorie der krummen Linien und Flächen sowie Darstellende und projektive Geometrie und Graphische Statik.
1904-1906 Für fünf Semester setzte BRANDES seine Studien an der Universität Halle fort. Hier wurde er stark von ALBERT WANGERIN (1844-1933) geprägt, bei dem er die Vorlesungen Elliptische Funktionen, Elliptische Funktionen II, Potentialtheorie sowie Sphärische Trigonometrie besuchte. Bei FELIX BERNSTEIN (1878-1956) hörte er Versicherungsmathematik und über Geschichte der Mathematik. Bei AUGUST GUTZMER (1860-1924) besuchte er die Funktionentheorie. Sowohl in Göttingen als auch in Halle widmete BRANDES sich intensiv dem Studium der Physik und Philosophie.
1907 Am 5. und 6. Juli legte BRANDES in Halle vor der Königlich Wissenschaftlichen Prüfungskommission für die Provinz Sachsen sein Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen ab; eine Ergänzungsprüfung fand am 13. September statt. Damit hatte er seine Lehrbefähigung in Mathematik und Physik nachgewiesen.
1907 Etwa im August reicht BRANDES seine auf Anregung von BERNSTEIN entstandene Dissertationsschrift Über die axiomatische Einfachheit mit besonderer Berücksichtigung der auf Addition beruhenden Zerlegungsbeweise des Pythagoräischen Lehrsatzes bei der Philosophischen Fakultät der Universität Halle ein. Nach deren positiven Begutachtung durch GUTZMER und Annahme durch die Fakultät finded das Rigorosum am 23. November statt. Die Brandes im Frühjahr 1908 überreichte Promotionsurkunde trägt das Datum vom 4. Mai 1908.
1907/08 BRANDES ist vom 1. Oktober 1907 bis 30. September 1908 als Seminarkandidat an dem Herzoglichen Wilhelm-Gymnasium zu Braunschweig beschäftigt.
1908/09 Als Einjährig-Freiwilliger erfüllt BRANDES in Berlin seine militärische Dienstpflicht bei der Abteilung für drahtlose Telegraphie; er wurde zum Funkeroffizier ausgebildet.
1909/10 Sein Probejahr absolviert BRANDES vom 1. Oktober 1909 an als wissenschaftlicher Hülfslehrer am Herzoglichen Gymnasium zu Helmstedt. Er hat alle Klassen bis zur Unterprima zu unterrichten: Mathematik, Physik, Naturkunde, Erdkunde, Rechnen und Turnen, insgesamt 22 bzw. 23 Wochenstunden!
1911-1914 Mit Wirkung vom 1. April 1911 wird BRANDES in Braunschweig als Oberlehrer an der Städtischen Realschule (Oberrealschule in Entwicklung) angestellt. Ab Ostern 1913 ist dies die Gaußschule, Städtische Oberrealschule am Löwenwall. Er wird zunächst schwerpunktmäßig in den unteren Klassen eingesetzt, in denen er Rechnen, Geometrie, Mathematik und Naturbeschreibung zu unterrichten hat. Nach und nach wird er auch mit Unterricht in den oberen Klassen betraut. Mathematik, Physik und Linearzeichnen sind hier seine hauptsächlich gegebenen Fächer.
Mindestens seit 1912 wird BRANDES, wie auch alle seine gleichaltrigen Kollegen, jedes Jahr zu achtwöchigen militärischen Übungen eingezogen.
1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg als Leutnant der Reserve an der Schweren Funkerstation beim Oberkommando der IV. Armee.
1919-1945 Nach dem Krieg kehrte BRANDES an seine alte Schule in Braunschweig zurück und hat hier schon bald nur noch die oberen Klassen in Mathematik, Physik und Linearzeichnen zu unterrichten. Mit den Unterrichtsjahren entwickelte sich BRANDES zu einem Oberstufenlehrer, dessen fachliche Kompetenz allgemein anerkannt war. Von den Schülern wird er als sehr strenger, aber gerechter Lehrer respektiert. Über viele Jahre betreute er die Sammlung für Physik und Mathematik der Schule.
1931-1945 OTTO ZOLL (1878-1952) gibt in diesen Jahren das mehrbändige und wiederholt überarbeitete Mathematische Arbeits- und Lehrbuch für alle Arten höherer Lehranstalten heraus; hier ist unter [4] nur der 1931 erschienene erste Band zitiert. BRANDES hat an diesem Lehrwerk als Autor der Kapitel über Trigonometrie, Sphärische Trigonometrie u. a. engagiert mitgewirkt.
1945-1948BRANDES gehört zu den wenigen Lehrern der Gaußschule, die nach dem Ende der NS-Zeit im Dezember 1945 die sofortige Lehrerlaubnis der alliierten Besatzungsbehörden erhalten. Ostern 1948 geht er in den Ruhestand.
1950Im Vieweg Verlag Braunschweig erscheinen unter der Herausgeberschaft von BRANDES zwei überarbeitete Bände [2] des ZOLLschen Lehrwerkes.
1965Tod am 16. Juni in Braunschweig.


2. Axiomatische Einfachheit

BRANDES geht es zunächst in seiner Promotionsschrift [3] um axiomatische Einfachheit. Er beginnt mit einer kritischen Darstellung der bisherigen Bemühungen, dem Begriff der "Einfachheit eines mathematischen Beweises" eine objektive Grundlage zu geben, um dann auf S. 10 seine Definition der neuen Einfachheit zu geben:

Es sei für eine [...] Gruppe von Beweisen [eines mathematischen Satzes] die Benutzung der Axiome a1, a2, ..., an vorgeschrieben.
Wir wählen nun aus diesem System von n Axiomen ein bestimmtes Axiom ax aus und nehmen als Maß der Einfachheit eines Beweises die Zahl der Anwendungen dieses Axioms. Von allen Beweisen, die mit Hilfe der n Axiome geführt sind, ist dann bezüglich des Axioms ax derjenige der einfachste, der bei einer beliebig häufigen Verwendung der übrigen n-1 Axiome die geringste Zahl der Anwendungen des Axioms ax benötigt.
[...]
Bestimmt man für jedes der n Axiome den axiomatisch einfachsten Beweis, so wird man im allgemeinen n verschiedene "einfachste" Beweise erhalten. Es ist aber möglich, daß diese n verschiedenen Beweise miteinander identisch sind, d. h., daß es einen Beweis gibt, der bezüglich sämtlicher n Axiome der axiomatisch einfachste ist. Existiert ein solcher Beweis, so nennen wir ihn den a b s o l u t einfachsten.

Zerlegungsbeweis nach GÖPEL.


Im umfangreichsten Teil seiner Promotionsschrift zeigt BRANDES, dass die Frage nach der axiomatischen Einfachheit auf e x a k t e m Wege beantwortet werden kann. Dazu betrachtet er beispielhaft die auf Addition beruhenden Zerlegungsbeweise des pythagoreischen Lehrsatzes, bei denen es darauf ankommt, die beiden Kathetenquadrate derart in Dreiecke (oder andere Figuren) zu zerlegen, dass mit ihnen das Hypothenusenquadrat ohne Überlappungen und ohne Lücken ausgelegt werden kann. Über die Jahrhunderte sind viele derartige Beweise entstanden. Die Abbildung auf dieser Seite stellt den 1844 von ADOLPH GÖPEL (1812--?) gegebenen Zerlegungsbeweis dar; vgl. [3]. Dabei hat man nur zu berücksichtigen, dass Teilfiguren mit gleicher Bezeichnung kongruent (was allerdings zu beweisen wäre; alle Zerlegungsgeraden sind parallel bzw. senkrecht zu einer der Dreieckseiten) und damit flächengleich sind. Unterteilt man noch die beiden Vierecke jeweils in zwei Dreiecke, so ist ersichtlich, dass dieser Zerlegungsbeweis mit sieben Dreiecken auskommt. In seinen Betrachtungen legt BRANDES jedoch nicht diesen Zerlegungsbeweis von GÖPEL zu Grunde, sondern einen Zerlegungsbeweis, der im allgemeinen dem arabischen Mathematiker AN NAIRIZI (um 875--940) zugeschrieben wird. Beide Zerlegungsbeweise sind im Wesentlichen identisch, denn beide Figuren lassen sich leicht ineinander überführen. In der Dissertation beweist BRANDES nun, dass es (abgesehen von einigen Spezialfällen) keinen additiven Zerlegungsbeweis mit weniger als sieben Dreiecken gibt und beweist damit die Vermutung seines Lehrers BERNSTEIN, dass unter den additiven Zerlegungsbeweisen des pythagoreischen Lehrsatzes der von AN NAIRIZI bezüglich des ebenen Kongruenzaxioms der axiomatisch einfachste ist.

Dieses Resultat von BRANDES fand breiten Eingang in die zeitgenössische Literatur. Heute wird es vor allem gewürdigt als ein frühes Beispiel, die Komplexität mathematischer Beweise exakt zu beschreiben. Es sei erneut auf [3] verwiesen.


3. Literatur

[1] H. Brandes: Über die axiomatische Einfachheit mit besonderer Berücksichtigung der auf Addition beruhenden Zerlegungsbeweise des Pythagoräischen Lehrsatzes [Inaugural-Dissertation Phil. Fak. Halle 1907]. Braunschweig: F. Vieweg & Sohn 1908.

[2] H. Brandes (Hrsg.): Lehr- und Arbeitsbuch für den mathematischen Unterricht an höheren Lehranstalten. 2 Bde: Unterstufe und Oberstufe I. Braunschweig: Vieweg 1950.

[3] M. Goebel, C. Schlensag: Hans Brandes (1883-1965), Promotion in Halle - Lehrer in Braunschweig. Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg, Inst. Math., Reports on History of Mathematics 08 (2008).

[4] O. Zoll (Hrsg.): Mathematisches Arbeits- und Lehrbuch für alle Arten höherer Lehranstalten. Geometrie mit einer Einführung in die darstellende Geometrie, Trigonometrie und die Geschichte dieser Gebiete, Mittelstufe. Braunschweig: Vieweg 1931.


[ Inhaltsverzeichnis ] Autor: M. Goebel

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