Ott-Heinrich Keller wirkte von 1951 bis 1971 als ordentlicher Professor für Mathematik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er leitete hier das I. Mathematische Institut und den Fachbereich Mathematik. Für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung war er von 1960 bis 1966 im Vorstand und von 1960 bis 1961 als Vorsitzender tätig. Er war Mitglied der Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Seine wissenschaftlichen Spezialgebiete waren Geometrie, Topologie und Algebraische Geometrie.
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Eduard Ott-Heinrich Keller wurde am 22.6.1906 in Frankfurt (Main) geboren. Er studierte an den Universitäten Frankfurt, Wien, Berlin und Göttingen. Mit einer Arbeit über die lückenlose Ausfüllung des Raumes mit Würfeln erwarb er 1929 bei Max Dehn die Promotion zum Dr. phil., war dann bis 1931 Assistent in Frankfurt, anschließend bei Georg Hamel in Berlin. Dort habilitierte er sich 1933 mit einer Arbeit über Cremona-Transformationen und war bis 1945 Dozent an der damaligen Technischen Hochschule. In den Kriegsjahren ab 1941 wurde er an die Marineschule Flensburg als Lehrer (außerplanmäßiger Professor) für Mathematik und Mechanik abgeordnet. Nach kürzeren Tätigkeiten in den ersten Nachkriegsjahren an den Universitäten Kiel und Münster wurde er 1947 als o. Professor an die Technische Hochschule Dresden und 1951 an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf den Lehrstuhl von Heinrich W. E. Jung berufen. In Halle hat er bis zu seinem Tode eine wissenschaftliche Tätigkeit von inhaltlicher Tiefe und Breite und von einer Ausstrahlungskraft auf den Kreis seiner Schüler und Freunde ausgeübt, wie sie in diesem Maße zu den Glücksfällen des mathematischen Geschehens in den schweren Jahrzehnten jener Zeit gezählt werden muß. Bei Betrachtung der Arbeiten Kellers fällt sofort auf, daß er zu mehreren, durchaus nicht nur benachbarten mathematischen Gebieten, Beiträge erbracht hat, die bedeutendsten zur Geometrie, zur Algebraischen Geometrie und Topologie; aber auch zahlentheoretische und analytische Themen sowie Betrachtungen mehr philosophischen Charakters wurden von ihm aufgegriffen. Dem entspricht auch die Vielfalt der Arbeitsrichtungen seiner Schüler im engeren und weiteren Sinne, von denen seit den sechziger Jahren namhafte Vertreter an zahlreichen Hochschulen wirken. In knappen Schlaglichtern seien hier nun einige der Themengruppen benannt, die durch Kellers Beiträge bereichert wurden. Eine ausführliche Darstellung findet man im Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 95/3 (1993). Bereits die in der Dissertation ausgesprochene "Kellersche Vermutung" über die Ausfüllung des n-dimensionalen Raumes mit Würfeln verbindet sich mit einer Vermutung von Minkowski über diophantische Approximationen (1896) und dem Satz von Hajós (1942) über endliche abelsche Gruppen: Kellers Vermutung verschärft, zugleich in geometrischer Fassung, die genannte Aussage von Minkowski. Im Jahre 1937 bewies Keller seine Vermutung für alle n<=6; damit war Minkowskis Aussage für alle n<=8 bewiesen. Der Satz von Hajos beweist die Minkowski-Aussage für alle n; freilich bleibt die Kellersche Vermutung offen, allerdings spricht vieles für ihre Richtigkeit. Ebenfalls zu jener frühen Schaffensperiode Kellers gehört eine Untersuchung kompakter Mengen in unendlichdimensionalen Räumen. Sie verdeutlicht, aus heutiger Sicht betrachtet, wesentliche Unterschiede, die in scheinbar so einfachen Standardbegriffen, wie "Rand" oder "Inneres" zwischen endlich- und unendlichdimensionalen Räumen bestehen. Von weitgehender Bedeutung sind die Arbeiten Kellers über Cremona-Transformationen, die in der Zeit bis 1950, zum Teil bis 1960, entstanden. Keller greift darin auch ein von Jacobi betrachtetetes Problem auf, das in erweiterter Fassung heute u.a. als "Kellersches Problem" vielfache Bearbeitung gefunden hat. Ein grundlegendes Motiv zur Beschäftigung mit Cremona-Transformationen war für Keller ihre Bedeutung als Instrument zu einer umfassenden Untersuchung algebraischer Kurven: Sowohl die Transformationsschritte als auch die an ihrem Ende erhaltenen Standardformen führen zu umfassenden Aussagen über Singularitäten und Klassifikation der Ausgangskurve. Damit spannt sich ein weiter Bogen von den algebraischen Geometern des 19. Jahrhunderts, etwa Plücker und Max Noether, bis zur heute weit gefächerten Theorie der Auflösung und Klassifikation von Singularitäten. Folgerichtig schloß sich in den weiteren Jahrzehnten eine Serie idealtheoretischer Arbeiten Kellers an. Damit sind nicht nur einige Arbeiten zum Stichwort "erträglich viele Schritte" bei körper- und idealtheoretischen Operationen gemeint. Vor allem ging es Keller um eine Klärung der Zusammenführbarkeit zweier großer Entwicklungslinien in der algebraischen Geometrie, verknüpft mit Namen, wie einerseits v.d.Waerden, A. Weil und andererseits W. Gröbner. Inhaltlich gruppieren sich diese Linien um Stichworte, wie "Einbettungs"-Multiplizität (gewonnen durch Spezialisierung) bzw. "strukturelle" Multiplizität (Ideallänge). Neben seinen eigenen idealtheoretischen Arbeiten verfolgte Keller auch mit unvermindertem Interesse den anschließenden intensiven Ausbau dieses Fragenkomplexes in der heutigen algebraischen Geometrie. Wiederum konsequent war es für ihn, einen Zugang zu Eigenschaften algebraischer Mannigfaltigkeiten nun auch auf dem Gebiet der Topologie zu suchen. Einerseits finden sich in mehreren Arbeiten Kellers detaillierte Aussagen zur topologischen Struktur algebraischer Flächen. Andererseits führte er in zwei Arbeiten grundlegende Möglichkeiten topologischen Arbeitens aus: Die erste dieser Arbeiten führt ein von Lefschetz angedeutetes Motiv zur induktiv-definitorischen Erfassung kombinatorisch-topologischer Begriffe vollständig durch. In der zweiten Arbeit stellt Keller als neuartiges Hilfsmittel "verallgemeinerte Projektionen" bereit. Auf diese Weise erwirkte er eine weitreichende Zusammenführung und Ausweitung topologischer Begründungswege für algebraisch-geometrische Begriffe (Multiplizitäten, Charakteristiken), wie sie seit Zeuthens Konzeption sowie in der "italienischen Schule" (Severi u.a.) neben den obengenannten Grundlegungen durch v.d. Waerden und Gröbner vorlagen. Besondere Erwähnung ist den Buchveröffentlichungen Kellers zu widmen. In Band I.2 der Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften nahm er, unter Einbeziehung des Themenkreises seiner Arbeiten zur Ausfüllung des Raumes mit Würfeln, eine umfassende Darstellung des aktuellen Standes der Geometrie der Zahlen vor. Dieser Band ist bis heute eine vielfältig nutzbare Grundlage für zahlentheoretisches Arbeiten. - Das Lehrbuch "Analytische Geometrie und lineare Algebra" besticht durch geometrische Plastizität, verbunden mit flexibler und in vielen Details reichhaltiger, auf konkrete Ausführbarkeit bedachte linear-algebraische Begründung. - In den "Vorlesungen über algebraische Geometrie" gelangt Keller durch Zusammenführung von Motiven der Idealtheorie, der numerischen Charakteristika bei Potenzreihen, der Topologie und der Divisorentheorie bis zu einer eindrucksvollen Mehrfachdarstellung des Satzes von Riemann-Roch. Alle hier genannten wissenschaftlichen Erträge könnten die persönliche Ausstrahlungskraft Kellers doch nur unvollständig, ja in wesentlicher Hinsicht gar nicht erklären. Tragend war vielmehr für alle, die ihn kannten, sein unbedingt lauterer Charakter, seine zugleich sorgfältige und herzliche, christlich fundierte Menschlichkeit. In konstruktiver und hilfsbereiter Zusammenarbeit durchaus tolerant, auch mit Menschen anderer Anschauungen, war er zugleich für sich gefestigt in der ethischen Gestaltung seines persönlichen Lebens. Auch in Zeiten, in denen sein aktiver Einsatz in der Evangelischen Forschungsakademie und in der heimatlichen Kirchengemeinde von manchen Mächtigen nicht gern gesehen wurde, ließ er sich dieses Engagement nicht nehmen und hat so manchem Ähnlichdenkenden nach Möglichkeit Unterstützung und Beistand gegeben.
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Buchveröffentlichungen:
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1953 | Engel, W. | Primteiler höherer Art im rationalen Funktionenkörper von n Veränderlichen und ihr Verhalten bei Cremona-Transformationen. (Die Arbeit wurde angeregt und hauptsächlich betreut von H. Jung.) |
1955 | Mrowka, E. | Automorphismen positiver ternärer quadratischer Formen. |
1957 | Pfeiffer, R. | Komplexe Farey-Netze und die Reduktion binärer quadratischer Formen K(i)n. |
1958 | Pazderski, G. | Die Ordnungen, zu denen nur Gruppen mit gegebener Eigenschaft gehören. |
1958 | Herrmann, M. | Über birationale Berührungstransformationen zweiter Ordnung. |
1960 (Dresden) | Günther, H. | Die quadratischen birationalen Transformationen der Strahlen des R3. |
1961 | Liebold, G. | Zur Inhaltslehre der ebenen hyperbolischen Geometrie. |
1962 | Fritzsche, R. | Beitrag zur Theorie der Modulfunktionen 2. Grades. |
1962 | Krötenheerdt, O. | Über einen speziellen Typ alternierender Knoten. |
1964 | Renschuch, B. | Verallgemeinerungen des Bezoutschen Satzes. |
1965 | Schmidt, W. | Zum Begriff des Leitideals in Potenzreihenringen. |
1965 | Vogel, W. | Idealtheoretische Schnittpunktsätze in homogenen Ringen mit Vielfachkettensatz. |
1965 | Stammler, L. | Resultantentheoretische Vielfachheitsdefinition zur Grundlegung bei Schnitt- und Berührungsproblemen. |
1967 | Nowotny, A. | Eine spezielle windschiefe Projektion zur Abbildung des projektiven vierdimensionalen Raumes in eine Hyperebene. |
1968 | Drechsler, K. | Homologiegruppen rationaler Varietäten. |
1968 | Lanckau, R. | Das verallgemeinerte freie Produkt in primitiven Klassen universeller Algebren. |
1968 | Ihle, W. | Untersuchungen über vollständige Quadriken. |
1971 | Weisbrod, J. | Torsentreue Abbildungen des Linienraumes. |
1975 | Buchsteiner-Kießling, E. | Über gewisse globale und lokale topologische Bedingungen. |
1977 | Schiemann, G. | Berechnung der Homologiegruppen singularitätenfreier algebraischer Hyperflächen und Konstruktion von Repräsentanten ihrer Erzeugenden. |
Unwesentlich verändert der Würdigung anläßlich seines Todes in der Zeitschrift "Beiträge zur Algebra und Geometrie", 32 (1991), entnommen.
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optstoch@ | 16. Febr. 2016, 17. Okt.1998, © goma |